Nadine Helmy: Ein Blick in das Werk von Karimeh Abbud
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mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin und artmejo.com
Die Fotografie begann sich im Osmanischen Reich bereits in den 1860er Jahren als ernstzunehmender Beruf zu etablieren, insbesondere während der Tanzimat-Periode (Reformen 1839-1876), als das Sultanat offizielle Hoffotografen ernannte, um die Ideologie des Osmanentums zu verbreiten.

Library of Congress, Prints and Photographs
In dieser Ära der Modernisierung wuchs die Kunst der Fotografie parallel zu gesellschaftlichen Fortschritten und wurde sogar als zentraler Bestandteil dieses Fortschritts angesehen. Insbesondere die Porträtmalerei spielte eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung von Al Nahda Al Arabiya (arab. Renaissance), da Bilder visuelle Hinweise vermittelten, die dazu beitragen sollten, die sozialen und Verhaltensnormen künftiger Generationen zu formen. In den großen Hauptstädten wie Beirut, Istanbul, Kairo, Jaffa und Jerusalem entstanden Fotostudios, aus denen Pioniere der Fotografie wie der Armenier Garabed Krikorian und der Palästinenser Khalil Raad hervorgingen, gefolgt von Persönlichkeiten wie Issa Sawabini und der einflussreichen Familie Sabonji.
Im Jahr 1924, während der Zeit vor der Nakba in Palästina, erschien in der palästinensischen Nationalzeitung Al Karmil eine ungewöhnliche Anzeige: Eine Palästinenserin erklärte sich mutig zur ersten und einzigen „Karimeh Abbud: nationale Fotografin (musawerra wataniyya)“ und bot Porträtsitzungen für Frauen und Familien an.

Die Khalil-Raad-Sammlung, mit freundlicher Genehmigung des Institute for Palestine Studies, Beirut
Historische Aufzeichnungen belegen, dass es vor dem Auftreten von Karimeh Abbud in der Geschichte der arabischen Fotografie keine Spuren einer weiblichen Beteiligung an dem Medium zu geben schien, das ausschließlich Männern vorbehalten war.
Frauen mussten sich mit Hindernissen konfrontiert sehen, wenn sie sich selbst, ihre Töchter oder Schwestern porträtieren lassen wollten oder ihr Zuhause fotografieren lassen wollten, da es nicht üblich war, dass Männer private Wohnräume betraten. Karimeh Abbud entdeckte somit einen unerschlossenen Markt und ergriff als unternehmerische Frau die Gelegenheit.


Heute wird Karimeh Abbud als eine der erfolgreichsten Fotografinnen gefeiert, die die Intimität des palästinensischen Lebens vor der Nakba von 1948 eingefangen hat. Ihr Oeuvre ist umfangreich und vielfältig und umfasst eine große Sammlung von Bildern häuslicher und sozialer Szenen, Studioaufnahmen, Porträts und Landschaftsfotografien. Bemerkenswerterweise leitete sie in den 1920er Jahren vier Fotostudios gleichzeitig und pendelte mit dem Auto zwischen Nazareth, Haifa, Jerusalem und Bethlehem, wo sich das Haus ihrer Eltern befand. Bei näherer Betrachtung scheint sich Abbuds umfangreiches Werk in zwei Kategorien zu unterteilen: kommerziell vertriebene Postkarten und Bilder dokumentarischer oder sozialer Natur. Während ihr dokumentarischer Ansatz die Essenz und Lebendigkeit des palästinensischen Lebens einfing, zeigte letzterer den unternehmerischen und kreativen Geist der Künstlerin.
Frühe Jahre und der Weg zur Fotografie
Karimeh Abbud wurde in eine Familie der Mittelschicht mit einem reichen künstlerischen Umfeld hineingeboren (*13.11.1893 +27.04.1940). Durch die häufigen Reisen ihres Vaters war sie schon in jungen Jahren mit den reichen Landschaften des Landes vertraut. Als er ihr 1913 zu ihrem 17. Geburtstag ihre erste Kamera schenkte, begann sie, die Schönheit und Weite der Landschaft von Bethlehem, wo sie zu dieser Zeit lebten, zusammen mit Bildern ihrer Familie und Freunde festzuhalten. Was Said Abbud genau dazu veranlasste, Karimeh im Alter von 17 Jahren ihre erste Kamera zu schenken, ist uns nicht bekannt, doch diese Geste scheint darauf hinzudeuten, dass ihr Vater ihre Leidenschaft schon früh erkannte.
Schließlich verließ sie ihr Zuhause und ging in den Libanon, um an der American University of Beirut arabische Literatur zu studieren. Da die Schönheit der palästinensischen Landschaft für sie unerreichbar war, inspirierte sie sich selbst weiter – mit besonderen fotografischen Exkursionen zu archäologischen Stätten in Baalbek, wobei sie sich oft von Themen der arabischen Literatur inspirieren ließ. Der Beginn ihrer professionellen Fotokarriere soll durch das erste signierte und abgestempelte Foto vom Oktober 1919 markiert sein.



Während der gesamten britischen Kolonialherrschaft (1918-1948) im arabischen Raum und insbesondere in Palästina kontrollierten westliche Fotografen die Erzählung der Region – sie schufen Bilder, die Ideologien aufrechterhielten, um sie in ihre kolonialen Pläne einzupassen. Da diese Bilder in Form von Postkarten weit verbreitet waren, verstärkten sie indirekt die imperiale Präsenz, die unter einem touristischen Rausch verborgen war. Die Historikerin Analise Moors weist darauf hin, dass solche Postkarten auf der Annahme beruhten, dass die Bewohner Palästinas seit der Antike unverändert geblieben seien – und kombinierten sowohl koloniale als auch biblische Blicke zu einer einzigen orientalistischen Erzählung, die Palästina als Relikt der Vergangenheit darstellte. Trotz der negativen Konnotationen, die mit Postkarten aus der Mandatszeit verbunden sind, bewegten sie sich in einem zeitspezifischen Rahmen, der Forschern aus historischer Sicht unverzichtbare Einblicke in die Biografie ihres Besitzers bietet. Bei der Untersuchung von Abbuds umfangreichem Werk bieten ihre Postkarten wertvolle Einblicke in ihre Arbeitsweise, ihre beruflichen Motivationen, ihren künstlerischen Ansatz und den kulturellen Kontext, in dem sie arbeitete. Tatsächlich geben die Daten, Poststempel, Briefmarken und handschriftlichen Nachrichten auf ihren Bildern einen Einblick in den Markt der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre. Da einige Texte auf Englisch oder Französisch verfasst zu sein scheinen, offenbaren diese Hinweise eine Unternehmerin, die sich ihres Marktes geschickt bewusst war und sowohl ein nationales als auch internationales Publikum bediente.
Einige von Karimehs Postkartenbildern zeigen, dass Abbud ihre Negative oft überarbeitete – sie entfernte alte Bildunterschriften und ersetzte sie durch neue und produzierte oft lithografische Drucke in kuratierten Sets oder Serien. Sie färbte Serien oft auch von Hand ein und bot ihren Kunden so eine Reihe ästhetischer Optionen. Sie inszenierte regelmäßig biblische oder religiöse Szenen und ging sogar so weit, ihren Vater, Said Abbud, einzuladen, für eines ihrer Bilder als Tourist zu posieren.



Der Historiker Isam Nassar merkt an, dass Abbuds Linse die Menschlichkeit und Bescheidenheit ihrer Motive einfangen wollte und das Vorgetäuschte zugunsten des Authentischen ablehnte. In dieser Hinsicht war Abbuds Vision einzigartig – aufgrund der tiefen Schlichtheit, die sie in ihre Arbeit einbrachte. Sie wandte sich von den europäischen Traditionen ab, die die Kunst der Porträtmalerei beherrschten, und widmete sich ganz dem gewöhnlichen Leben ihrer palästinensischen Modelle, wobei sie diese Echtheit in einem einzigen Moment einfing.
Bei der Betrachtung ihrer Porträts kann man ihre technische Beherrschung der Seitenbeleuchtung erkennen, die sie als „National Sun Photography“ bezeichnete. Sie tauchte ihre Modelle in einen sanften Glanz und schuf Bilder, die Wärme und Intimität ausstrahlten und einen Einblick in die Seele ihrer Modelle gewährten. Durch Abbuds Porträts werden wir in eine Welt eingeladen, in der die Aura eine Feier der Normalität, des Alltäglichen ist. Ihre Motive stehen nicht als große Autoritätspersonen oder religiöse Ikonen vor uns, auch nicht als Figuren aus biblischen Erzählungen oder ethnografische Obsessionen westlicher Betrachter. Stattdessen werden sie im Lichte ihrer eigenen Bestrebungen gezeigt – Menschen, die in ihrer stillen Würde die Träume einer bürgerlichen Existenz widerspiegeln.




Diese Fotos dienten als dokumentarischer Beweis dafür, dass das Land weder unfruchtbar noch verlassen war. Darüber hinaus konzentrierte sich Karimeh Abbud darauf, echte palästinensische Familien – überwiegend aus der Mittelschicht, gebildet und gut gekleidet – zu fotografieren und ein würdevolles Bild zu präsentieren, das der zionistischen Propaganda entgegenwirkte. Solche Bilder wurden nicht für Touristen oder ein internationales Publikum geschaffen, sondern speziell für die Menschen vor Ort. Ihre Bilder von palästinensischen Familien in ihrer authentischen Umgebung stellten die orientalistische Erzählung in Frage, die Palästinenser, insbesondere Frauen, oft durch die Linse der europäischen Vorstellungskraft oder biblischer Archetypen darstellte. Auf diese Weise stellen Karimehs Fotografien einen wichtigen nationalen Beitrag dar, der die Lebendigkeit des palästinensischen Lebens vor der Nakba dokumentiert.
Unterstützt von der Abdul Hameed Shoman Foundation
Dieser Artikel gibt die Übersetzung eines Originaltextes wieder, der eine Momentaufnahme geschichtlicher Einordnung widerspiegelt und anhand einer bedeutenden Person aus der Geschichte Bethlehems erzählt.
Wir danken herzlich der freundlichen Unterstützung von Hind Joucka, der Gründerin von ARTMEJO und der Autorin Nadine Helmy.
Ergänzend dazu ein Hör-Beitrag des WDR vom 03.11.2024, 26:04 Min., Verfügbar bis 02.11.2029.
https://www1.wdr.de/radio/cosmo/podcast/lost-sheroes/index.html
Karimeh Abbud – Die erste Fotografin Palästinas
Lost Sheroes – Frauen, die in den Geschichtsbüchern fehlen